Für einen antisexistischen Konsens!

Für einen antisexistischen Konsens!
Die linke Szene – ein Ort, an dem jede*r die Grenzen der anderen achtet. Eine schöne Utopie, die
leider nicht immer der Realität entspricht. Auch in autonomen Zentren, in besetzten Häusern, auf
Demos oder Plena – wo sich die allermeisten als „antisexistisch“ labeln – ist der Sexismus, den man in
einer sexistischen Gesellschaft ein Leben lang gelernt hat, nicht einfach weg. Man verliert keine
(negativen) Verhaltensweisen, nur weil man sich in linken Räumen bewegt und zu guter Letzt gibt es
auch bei uns schlicht weg Arschlöcher, denen die Grenzen anderer egal sind. Der Konsens darüber,
dass Antisexismus wichtig ist, gehört schon zum Szene-Style – konkret umgesetzt wird davon oftmals
wenig.
Wir als Reutlinger Gruppen schreiben diesen Text, um der Betroffenen der Grenzüberschreitungen in
der Gartensia unsere Solidarität auszudrücken. Auch wollen wir noch einmal in den Mittelpunkt
rücken, dass wir alle Teil sexistischer Strukturen sind, weshalb ein Ausstieg nicht einfach so ohne
weiteres möglich ist und welches konkret antisexistische Handeln wir im Umgang mit Übergriffen in
linken Räumen erwarten.
Gegen den sexistischen Normalzustand
Ähnlich wie Rassismus oder Kapitalismus ist auch der Sexismus eine große gesellschaftliche Struktur,
also ein Verhältnis, dem man nicht einfach per Absichtserklärung entkommt. Unser Verhalten,
unsere Geschlechtsidentität und unsere Gefühle sind Teil und Ergebnis dieser Strukturen und
reproduzieren sie gleichzeitig. Was wir damit sagen wollen ist, dass wir nicht frei von Sexismus sind,
nur weil wir das gerne wären. Viele Denk- und Verhaltensmuster sind tief in uns verankert und es
bedarf einer intensiven Auseinandersetzung damit, auch – und vor allem – in linken Räumen.
Übergriffiges Verhalten und das Verletzen von Grenzen anderer findet auch in linken Kreisen und in
unseren persönlichen Verhältnissen statt. Es ist ein ekelhafter Normalzustand dessen Bekämpfung
seit jeher ein zentraler Bestandteil feministischer Arbeit ist. Wir wollen gemeinsam diese sexistische
Normalität hinterfragen und nicht zulassen, dass unsere antisexistischen Ansprüche bereits hieran
scheitern. Klar hat keiner Bock sich damit auseinander setzen zu müssen, dass man sich selbst
sexistisch verhält und auch gute Freund*innen oder Genoss*innen übergriffig sein können oder
Grenzen nicht achten. Es kann aber nicht die Alternative sein, diesen Zustand zu leugnen.
Sexistische Strukturen helfen gewaltausübenden Personen
Die meisten Mythen zum Thema sexuelle und/oder sexualisierte Gewalt beziehen sich auf Frauen als
Opfer und ihr Verhalten. Oftmals werden bestimmte Akte sexueller und/oder sexualisierter Gewalt
als „im Rahmen der Normalität“ gesehen, die Glaubwürdigkeit der Betroffenen wird in Frage gestellt
und ihr Verhalten in der Situation kritisiert. Die gewaltausübende Person hingegen wird als „Anderer“
wahrgenommen, als das Anormale. (Hinter den meisten Vergewaltigungsmythen steht ein strukturell
rassistisches Bild des Fremdtäters. Hierzu gerne an anderer Stelle einmal mehr, den Umfang unserer
Erklärung würde es wohl sprengen, hier tiefer einzusteigen.)
Was sich aber sagen lässt ist, dass sich hieraus gewisse Muster und Erwartungen ergeben, die erfüllt
werden müssen, damit ein Übergriff als solcher anerkannt wird. Die meisten Übergriffe entsprechen
diesen jedoch nicht. Was es Betroffenen schwer macht, Grenzüberschreitungen als solche zu
benennen. Oft sind Ressourcen (wie Unterstützung durch Freund*innen oder einen
Unterstützer*innen-Kreis) nötig, um diesen Schritt zu gehen und meist kommt es zu weiteren
Verletzungen, wenn Betroffene die Kraft finden, über das Erlebte zu sprechen. Ein
ausschlaggebender Faktor hier sind die Reaktionen durch das Umfeld, das oftmals aufgrund
mangelnder Auseinandersetzung völlig falsch reagiert: es wird nicht geglaubt, Vorwürfe werden nicht
ernst genommen, es werden Informationen eingefordert, Betroffene werden pathologisiert, d.h. als
krank, verrückt, hysterisch etc. verleumdet. Was hier passiert, ist eine Umkehr des Täter-OpferVerhältnisses, die dazu dient sich nicht mit den eigentlichen Problemen (Grenzüberschreitungen und
sexistische Strukturen) auseinander zu setzen.
In einer Gesellschaft, in der Sexismus und Grenzüberschreitungen Normalität sind, ist Parteilichkeit
gefragt. Denn wann immer wir diese Normalität aufrechterhalten, lassen wir Betroffene im Stich. Es
darf also keine Neutralität geben. Sich nicht zu verhalten, sich eine objektive Meinung zu bilden oder
„beide Seiten hören zu wollen“ bedeutet, diesen Zustand mitzutragen und so gewaltausübende
Personen zu unterstützen.
So weit so gut. Was allerdings oft passiert wenn eine Person eine andere bezichtigt, ihre Grenzen
verletzt zu haben ist, dass sich das Umfeld in (zwei) Lager teilt: Die Freund*innen/Unterstützer*innen
der Betroffenen auf der einen, die der gewaltausübenden Person auf der anderen Seite. Die
Aufregung ist groß, es gibt tausend Gerüchte und Nebenstorys und auf beiden Seiten gibt es eine
eigene Definition dessen, was passiert ist, Verletzungen wiederholen sich und oftmals redet am Ende
niemand mehr miteinander.
Um das zu vermeiden, muss es einen Konsens zur Definitionsmacht geben, welche fordert, dass jede
Person ihre Grenzen selbst definiert und keine vermeintlich objektiven Beweise dafür anführen muss,
ob diese denn nun verletzt worden sind oder nicht. Betroffene müssen die uneingeschränkte
Möglichkeit zur Definition des ihnen Angetanen haben. Ihr Erleben, auch wenn es durch sexistische
Normalitätsraster fällt, muss ernst genommen werden. Zudem ist es wichtig, dass Betroffene Gefühle
wie beispielsweise Trauer und Wut empfinden dürfen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Betroffene
diese Gefühle zulassen, und viel zu selten werden sie ihnen zugestanden.
Wenn wir uns als antisexistische Akteur*innen eine Perspektive von Betroffenheit aneignen, geht
damit notwendig die Enteignung der „Täterperspektive“ einher. In vielen Fällen, in denen das
Geschehende „objektiv“ betrachtet wird, werden die Bedürfnisse der Betroffenen ignoriert, dabei
sollten sie der Ausgangspunkt jeglichen Handelns sein.
Also: Aktive Solidarität mit Betroffenen!
Wir finden, die Bedürfnisse von Betroffenen müssen immer an allererster Stelle stehen. Jeder
Vorwurf von sexueller Gewalt oder Sexismus ist in jeder Form ernst zu nehmen. Es sollte nichts
passieren, was die Betroffenen nicht wollen. Es geht im Prozess der Unterstützung auch darum, die
Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmtheit von Betroffenen wiederzugewinnen. Für eine
Positionierung und Solidarisierung reicht es aus, zu wissen, dass es einen Vorwurf gibt.
Antisexismus heißt für uns, sich mit gesellschaftlichen Strukturen und Ursachen von Sexismus
auseinanderzusetzen. Es heißt aber auch antisexistische Handlungsperspektiven auf uns und unser
eigenes Umfeld anzuwenden und unser eigenes Handeln kritisch zu reflektieren. Nur wenn diese
Auseinandersetzung stattfindet, können sich Betroffene innerhalb der Linken auf einen besseren
Umgang und ein höheres Reflektionsniveau verlassen.
Im konkreten Fall um die Vorwürfe in der Gartensia mussten sowohl Betroffene als auch ihre
Unterstützer*innen oben beschriebene Negativ-Erfahrungen machen. Die Diskussion wurde weg vom
eigentlichen Thema gelenkt, hin zu persönlichen Meinungen, individuellen Schuldzuweisungen und
der Frage, ob Unterstützer*innen überhaupt genug Einblick in die Situation haben, um Partei zu
ergreifen.
Wir wünschen uns eine breite Solidarität innerhalb der linken Szene! Gegenseitiges Ausspielen,
Entrüstung über Solidaritätsbekundungen mit Betroffenen und die Aufforderung diese zu löschen
sehen wir als genau das Verhalten an, was einem konsequent feministischen und sicheren
Miteinander im Wege steht. Dem wollen wir hiermit eine konsequente und reflektierte Erklärung
unsererseits entgegenstellen.
Ein Statement zum Umgang mit Grenzüberschreitungen in linken Kontexten (bezugnehmend auf die
aktuelle Situation in der Gartensia in Tübingen) von: Kulturschock Zelle e.V. Fanclub Kollektives
Eigenheim (ehemals „Die Crew“) ROSA Reutlingen for Organisation, Solidarity & Actions